Autorenporträt

Geboren bin ich am 6.8.1944 in Magdeburg. Ein Jahr vor Hiroshima.  
Mein beruflicher Werdegang: Abitur 1964. Anschließend
Wehrdienst, Lehramtsstudium, Stipendium und Promotion.
Nebenbei ein passabler Fußballer (mehrfacher
Studentennationalspieler). Ab 1974 an der pädagogischen Front
tätig. Oberstudienrat in den Fächern Deutsch, Geschichte und Sport am Goethegymnasium. Inzwischen Pensionär.
Mein erstes Buch hat überwiegend mit der Politik im Nachkriegsdeutschland zu tun. Allerdings liegt mir das Klagen nicht, dafür der Spott. So ist eine Satire entstanden:                              Michel schlägt zurück! 
Den Umschlag ziert die Feststellung: "Schlimmer als die Vermutung, dass viele Politiker uns belügen, ist die Befürchtung, dass sie glauben, was sie sagen!"
                                        Auch: Die Fäden ziehen
ist eine Gesellschaftssatire, verpackt in einen Kriminalroman.
„…es ist so bitterböse, wie diese spezielle Gesellschaft gnadenlos
widergespiegelt wird und es wurde gruseliger, je mehr ich lesend hineingezogen wurde, bis Realität und Fiktion verschwammen, meisterlich…“
Und schließlich meine satirischen kleinen Geschichten:
                          Zunächst: Kleine Geschichten über Politik  
„Die Lektüre dieses geistreichen Büchleins hat mir bei aller Nachdenklichkeit großen Spaß bereitet.“ (Bereits in der 2.Auflage)
Zu den angenehmen Seiten gehört die Familie:
Kleine Geschichten über Enkel
„Der Autor hat es erneut verstanden, mit liebenswerter Satire Realitäten schmackhaft zu machen!“ (Ebenfalls bereits in der 2. Auflage)
2011 erschien:
                                         Kleine Geschichten über Golf
„Lieber Herr Dr.Hellmann, da ist Ihnen ja etwas ganz Großes gelungen - herzlichen Glückwunsch!“
Nun, 2013, nach dem Erfolg des ersten Golfbuches, ist die Fortsetzung der „Kleinen Geschichten über Golf“ erschienen:
„Geschichten über kleines Golf“
Ganz neu: Satiren über Fußball:
„Hallo Brasilien! Wir kommen! Band I Amateure“
 
                  und „Hallo Brasilien! Wir kommen! Band II Profis“

Meine Rede zur Abiturientenentlassung!
Gehalten am 29.6. 2007 im Goethegymnasium Hildesheim


Verehrte Anwesende!
Ein Weinkenner würde über den vor mir sitzenden Jahrgang 2007 sagen: ein guter Jahrgang. Eine Auslese erlesener Früchtchen. Vorbildlich im Abgang. Manchmal etwas vollmundig.
Der Herstellungsprozess war nicht ganz unkompliziert. Einige Spätleser dabei. Manche mussten ein Jahr zwischengelagert werden, um zur richtigen Reife zu gelangen.
Fragte man nach den Hausaufgaben, waren sie eher rot. Gab man die Klausuren zurück, eher weiß. Auf Studienfahrten eher halbtrocken.
Kurzum : Ein erstklassiger Qualitätswein, der heute mit Recht sein Prädikat erhält.

Mit diesem Jahrgang verbindet mich viel. In der 7. und 8. Klasse war ich stellvertretender Klassenlehrer.
In der 11. wurde ich dann selbst Klassenlehrer, inzwischen hatten die Kleinen ihre Pubertät mehr oder weniger erfolgreich hinter sich gebracht.
Aus den frechen Rotzlöffeln der 7. Klasse waren aufrechte Mannsbilder geworden, aus den eingeschüchterten Mäuschen waren selbstbewusste junge Damen herangewachsen.
Dann die Oberstufe: Leistungskurs in Deutsch, 4. Prüfungsfach in Geschichte.
Und auch außerhalb der Schule gab es mit diesem Jahrgang zwischenfalllose Begegnungen: Klassenfahrt in der 8. nach Kassel, Abschlussfahrt in der 11. nach Hamburg, Studienfahrt in der 13. nach Prag, da lernt man die Menschen hinter den Schülern kennen.
Was sagt man diesen ungeduldig mit den Hufen scharrenden Fohlen auf den letzten Metern der Wegstrecke, die man gemeinsam geht? Was gebe ich Euch, liebe Abiturienten, mit auf den Weg, ohne die Rede mit irgendwelchem Gesinnungskitsch vollzustopfen?

Was von 31 Jahren übrig blieb
Ich bin inzwischen über 31 Jahre an dieser Schule. Dies ist, das scheint sicher, meine letzte Abiturientenentlassung in Amt und Würden.
Es ist allerdings nicht meine 31. Abiturfeier.
Als ich an die Schule kam, weiland 1976, hing nach dem Abitur ein Zettel am Schwarzen Brett: Abiturzeugnisse bitte bei der Sekretärin abholen. So war das damals, Ende der siebziger Jahre. So war der Zeitgeist. Ja keine offiziellen Feiern, ja keine pathetischen Reden, Jeans und Parker als Uniform.
Ich wurde dann Vertrauenslehrer an der Schule. Zusammen mit den Schülern habe ich die erste Abiturientenentlassungsfeier wieder eingeführt.
Vor einigen Jahren lief mal ein sehr schöner Film mit dem Titel: „Was vom Tage übrig blieb….“. Was bleibt nach 31 Jahren an dieser Schule, nach 40 Dienstjahren insgesamt übrig, was es wert wäre, an meiner letzten Abi - Entlassungsfeier gesagt zu werden?
(Wäre ich ein außenstehender Spötter ( eine Rolle, die mir ja durchaus liegt….) so würde ich sagen:“ Um Gottes Willen, jetzt kommt Hellmanns Vermächtnis…“
Stimmt.)
Schule und die Verlehrerung
Schule steht stets in der Kritik – und das ist auch gut so. Nur so kann sie sich weiterentwickeln. Manche Kritik freilich ist ungerecht, manche ungerechtfertigt. Ungerecht ist der Abstieg unseres Berufes in der öffentlichen Wertschätzung, zu dem die Politik nicht unwesentlich beigetragen hat. Das wird dadurch ein wenig ausgeglichen, dass sich meine Wertschätzung gegenüber den Politikern in sehr überschaubaren Grenzen hält.
Lehrer sein ist ein schöner Beruf, ein schweres Amt. Ich habe extra dieses Pult auf die Bühne schleppen lassen, weil es mich mit einer Anekdote aus meiner eigenen Referendarzeit verbindet. Ich habe damals am Hölty – Gymnasium in Celle meine Examensarbeit in einer 13. Klasse geschrieben und habe anschließend mit den Schülern, wie sich das gehörte, zusammen gefeiert. Dabei meinte  ein wohlmeinender Schüler zu mir : „Mensch, Herr Hellmann, verlehrern Sie bloß nicht so schnell….“ Ein kluges Wort, so als ob es einen Prozess der Verlehrerung gibt, dem man sich auf die Dauer nicht entziehen kann. Ich habe diese Geschichte mal einem Leistungskurs erzählt und gemutmaßt, dieser Prozess der „deformation professionelle“ sei inzwischen bei mir abgeschlossen. Eigentlich fehle mir nur noch so ein Stehpult zum richtigen Pauker. Prompt kriegte ich dieses Pult von denen geschenkt.
Worin besteht Verlehrerung? Zu Anfang ist man noch unsicher, fachlich nicht ganz gefestigt und im Umgang mit Konfliktsituationen ungeübt. Man hat Ecken und Kanten und Schüler empfinden all die kleinen Unfertigkeiten durchaus als angenehm.
Dann wird man Profi. Man wird zunehmend unangreifbar und sieht sich gleichzeitig in der Gefahr, dass sich der eigene Horizont verengt.
Schule braucht beispielsweise Übersichten, Tafelbilder, Modelle. Man könnte auch sagen, Schule braucht Erlernbares, Abfragbares, Strukturen, das liegt in der Natur der Sache. Darin steckt aber auch immer eine Verengung, Kleinkariertheit, Reduktion: kurzum: eine Behinderung des freien Gedankenfluges.
Schule kann dies nicht ändern, aber sie sollte sich wenigstens stets des Spagates zwischen Lernen und Denken bewusst sein.
Wir sollen zur mündigen Persönlichkeit erziehen. Mündigkeit entsteht durch eigenes Denken, entsteht durch Rationalität und Argumente.
Die Modelle, die Tafelbilder, die Übersichten werdet ihr, liebe Abiturienten, weitgehend vergessen. Was bleiben soll, ist das Denken.

Über das Anzünden des wohltätigen Lichtes im Geiste
Jetzt wird’s etwas schwerer:
Im Jahre 1794 schrieb Friedrich Schiller in einem Brief an Immanuel Kant: „Nehmen Sie, vortrefflicher Lehrer, (….) die Versicherung meines lebhaftesten Danks für das wohltätige Licht an, das Sie in meinem Geist angezündet haben.“
Wir versammelten Lehrer hier sind nicht so vermessen, solche schönen Briefe von Euch zu erwarten. Aber: was Schiller seinem Lehrer Kant hier bescheinigt, ist die zentrale Hoffnung am heutigen Tage: dass es uns gelungen sein möge, in Eurem Geiste, liebe Schüler, ein Licht anzuzünden.
Ich bin ein Anhänger Immanuel Kants. Mit ihm verbinden wir das riesige Projekt der Menschheitsgeschichte, die Aufklärung.
Jener kleine Kerl aus Königsberg, er war nur 1,59 m groß, jener Philosoph hat die Grundlagen für unser modernes Denken gelegt.
Er war ein Kauz.
Er rührte den Senf für seine Mahlzeiten am liebsten selber an und gab, wie böse Zungen behaupten, gern überall seinen Senf dazu. Er hatte panische Angst vor Wanzen, die er durch absolute Verdunklung des Zimmers bekämpfen wollte. Er wurde über 80 Jahre, geheiratet hat er nie. Er bekannte verschmitzt: „Als ich eine Frau brauchen konnte, konnt ich sie nicht ernähren, und als ich eine ernähren konnte, konnt ich sie nicht mehr brauchen…“
Immanuel Kant hielt auf höchste preußische Disziplin, ließ sich jeden Morgen um 4.45h von seinem Diener Lampe, einem ausgemusterten Soldaten, wecken mit den Worten: „Es ist Zeit!“ Pünktlich um 10 h ging er ins Bett. Die Tagesgewohnheiten einiger Schüler dieses Jahrganges erschien mir während der Studienfahrt nach Prag ähnlich, bloß umgekehrt: nicht vor 5 Uhr ins Bett und nicht vor 10 Uhr wecken…..
Allerdings sollte man der Gerechtigkeit halber einfügen, dass Kant dieses disziplinierte Leben erst führte, als er über 40 Jahre alt war und seine Kräfte allmählich nachzulassen begannen. Vorher hat er sehr wohl zu leben verstanden:
Als Student war er ein guter Kartenspieler und verdiente sich sogar mit Billard ein Zubrot zum Studium. Also, liebe Schüler, wenn ihr es jetzt noch nicht ganz schafft mit dem asketischen Aufstehen jeden Morgen vor 5, 20 Jahre bleiben Euch noch.

Über die Sprache
Was bedeutet Immanuel Kant für mich? Für uns?
Der erste Aspekt ist einfach: Kant hat glasklar gedacht und großartig formuliert. Franz Grillparzer schrieb 1819 in sein Tagebuch, man solle Kant lesen, denn:  „Nichts ist mehr geeignet, an Deutlichkeit(…) und Präzision der Begriffe zu gewöhnen…..“ (Biographie Kant, S.176)
Heute gibt es im Zentralabitur einen Text von Roland Schimmelpfennig. Gegen dieses vollendete Fragment ist selbst Rosamunde Pilcher Weltliteratur.
Oder die Heranwachsenden werden genötigt, Irmgard Keuns „Kunstseidenes Mädchen“ zu lesen, das etwa so nah an der Lebenswirklichkeit von Schülern ist wie das Telefonbuch von Chicago und das sich in der Gossensprache dahinwurschtelt.
Meine Beschwerden richten sich auch gegen den Wortwust, mit dem mich das Kultusministerium in den vergangenen 40 Jahren überschwemmt hat. Nehmen wir das neue niedersächsische Zentralabitur, um deutlich zu machen, was ich meine: Da müssen die armen Schüler die so genannten „Operatoren“ lernen. Viele Eltern werden sagen, was sind denn „Operatoren“. Richtig gefragt, kein halbwegs gebildeter Mitteleuropäer kann mit „Operatoren“ etwas anfangen.
Es sind schlicht die „Arbeitsanweisungen“ im Zentralabitur. Und warum sagt man das dann nicht? Warum sagt man so hochgestochen „Operatoren“? Oder will man mit Gewalt akademische Bildung unter Beweis stellen?
Dann werden diese Operatoren erläutert: Bei der Aufgabenstellung „Interpretieren“ steht als Erklärung: nach Formulierung einer Interpretationshypothese und in Wechselbeziehung zu einer Analyse sinnhaltige Elemente literarischer oder pragmatischer Texte in ihrer funktionalen Bezogenheit aufeinander deuten und in einer Gesamtdeutung des Textteils oder Textes nachvollziehbar darstellen…..
Was daran nachvollziehbar ist, soll mir mal einer erklären!
Vor einer solchen Arbeitsanweisung sitzt dann der arme angehende Abiturient, der nach unruhig verbrachter Nacht kreidebleich und voller Bangen auf die vorgelegten Abituraufgaben schaut.
Wie wärs einfach damit: „Interpretieren“ heißt, den Text wiedergeben und deuten. Fertig. Statt da was von „funktionaler Bezogenheit“ daherzufaseln.
Eine klare Sprache ist auch eine menschenfreundliche Sprache, sie macht die Beziehungen zwischen oben und unten transparenter. Formuliert der Mensch eindeutig, weiß der andere Mensch, was los ist. Es gibt ihm Sicherheit und beide bleiben auf Augenhöhe. Eine klare Sprache ist eine demokratische Sprache.

Ähnliche Kritik gilt dem Pathos der Begrifflichkeit.
Wer über Schule etwas sagt, meint, ohne die Begriffe „Chancengleichheit“, und „individuelle Förderung“ nicht auskommen zu können. Es sind pädagogische Symbolworte im Klammergriff der Akzeptanz.
Hebt man zu einem Gegenargument an, steht sofort unausgesprochen der Vorwurf im Raum: „Haben Sie etwa was gegen…..???“
Ganz nebenbei: Der Ruf nach „individueller Förderung“ der Schüler ertönt ziemlich schamlos gerade von jenen Politikern, die vorher unsere Klassenfrequenzen auf über 30 hochgeschraubt haben.
Je häufiger man diese pathetischen Begriffe verwendet, desto mehr wähnt man sich auf der sicheren Seite. So entsteht in der Schuldiskussion eine Scheinrealität, in der ideologisch eingefärbte Wohlfühlbegriffe eine nüchterne Diskussion um Sachverhalte verhindern. Man muss sich im Gefolge der PISA - Studie nur einmal die Argumente für die „Gesamtschule“ betrachten. Da wimmelt es nur so von diesen pathetisch aufgepeppten Leerformeln.
Sprache soll nicht überrumpeln, sie soll aufklären. Sprache soll nicht verunsichern, sie soll Vertrauen geben. Sprache soll nicht einschüchtern, sondern helfen.
In der sprachlichen Klarheit liegt das Kluge. Das andere ist Bluff und Blendung durch Worthülsenakrobatik. Ist scheinintellektuelles Getue.
Also, liebe Abiturienten, liebe Eltern, liebe Kollegen: Drückt Kompliziertes einfach aus und nicht Einfaches kompliziert , sagt Ungewöhnliches mit gewöhnlichen Worten statt Gewöhnliches mit ungewöhnlichen.
Kant mahnte schon vor 200 Jahren:
"Kein größerer Schaden kann einer Nation zugefügt werden, als wenn man ihr ………die Eigenschaften ……………ihrer Sprache nimmt."


Sapere aude
Der aufgeklärte Mensch. Welch eine wundervolle Idee! Kant lieferte die klassische Definition: „Aufklärung“ – so in seiner berühmten Schrift von 1792 – „ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“
Dieser Satz ist das Signal für den Anbruch der Gegenwart, der modernen Wissenschaft, der demokratischen Gesellschaft, Signal für das Ende des Absolutismus.
Ein Signal für das Ende des Dogmatismus war es leider nicht.
Ein Ende der Mächte, die den Menschen bevormunden wollen, auch nicht. Ein Blick in die Presse von heute, ein Blick in die Fernsehnachrichten genügt, um uns klar zu machen, dass das riesige Projekt der Aufklärung noch lange nicht beendet ist, ja dass es auch immer wieder Rückschläge erleidet.
Woran liegt es?
Kant sagt mit Recht, es läge an unserer Faulheit und Feigheit.
Es ist so bequem, unmündig zu sein. Es ist leichter, sich zu ducken als den Rücken gerade zu machen.
Ich schätze, dass ich nach mindestens acht unterschiedlichen Abiturordnungen prüfen musste. Kaum wechselte die Landesregierung, zog ein neues Heer von Schulverbesserern in die Ministerien ein und sie erfanden das pädagogische Rad  neu.
Plötzlich sollte ich in Geschichte über die Rolle der Frau in der präkolumbianischen Gesellschaft unterrichten. Dafür sollte die Französische Revolution geopfert werden.
Ich habe mich einen Teufel darum geschert und weiterhin Aufklärung und Revolution behandelt. Inzwischen muss man das auch wieder…..
Statt Unterrichtsmethoden kontinuierlich weiter zu entwickeln, wechselten alle paar Jahre die Moden.
Im Moment klippert die Mühle am rauschenden Schwachsinn.
(Klippert ist z.Zt. der Guru der pädagogischen Avantgarde….)

Nicht dass ich gegen Neuerungen bin, was mich irritiert, ist der Absolutheitsanspruch, mit dem die Landes - Prediger stets auftraten. Und es erstaunt mich immer wieder, welch große Schar von gläubigen Jüngern sie flugs zusammenkriegen.
Ich hab’ s immer mehr mit dem eigenen Denken, Ausprobieren und Experimentieren gehalten. Auch Lehrer haben ein Recht auf mündige Gestaltung ihres Unterrichtes.

Also, liebe Abiturienten, lasst Euch da draußen nicht so schnell einschüchtern, lasst Euch nicht so schnell entmündigen. Lasst Euch nicht den Mund verbieten und lasst Euch  nicht vorschreiben, was Ihr zu denken habt. „ ... Sapere audite! Habt Mut, Euch Eures eigenen Verstandes zu bedienen!“

Ich gebe zu, dass ein solches Verhalten einer Karriere manchmal im Wege stehen kann. Aber:
Wie sagte einst schon Theodor Storm in einem Gedicht: „Für meine Söhne“:
„Was du immer kannst zu werden
Arbeit scheue nicht und Wachen
Aber hüte deine Seele
Vor dem Karrieremachen

Wenn der Pöbel aller Sorte
Tanzet um die goldnen Kälber
Halte fest: du hast vom Leben
Doch am Ende nur Dich selber…..“
Damit ich wiederum nicht missverstanden werde, ich möchte nicht etwa abraten, aufzusteigen in der gesellschaftlichen Hierarchie. Sonst finden wir in den Führungspositionen dieser Gesellschaft bald nur noch jene windschnittigen Schwätzer und Duckmäuser, die sich nach oben geschleimt haben. Jene, die immer nur die ausgelatschten Pfade der vermeintlichen political correctness langschleichen, weil sie sich so auf der sicheren Seite wähnen. Jene, die meinen, die Gleichberechtigung der Frau erfordere, dass man an jeden Sammelbegriff wie Schüler oder Lehrer ein …innen dranhängen müsse, neuerdings mitten im Wort groß geschrieben. Jene, die meinen, sie seien schon deswegen antirassistisch, weil sie sich keine Negerküsse mehr leisten und keine Zigeunerschnitzel mehr bestellen. Jene, die meinen, sie seien schon deswegen Gutmenschen, weil sie einer bestimmten Partei beitreten.
Ihnen sei gesagt: man wird noch lange nicht zum Märchenprinzen, nur weil man wie ein Frosch küsst.
Wo aber ist die Richtschnur für unser Verhalten, wenn die Karriere nicht der alleinige Maßstab sein darf?
Wo ist die Maxime, die uns Menschen in unserem Handeln bestimmen sollte? Neben der klaren Sprache, derer wir uns befleißigen mögen und neben dem Mut, den Mund aufzumachen??

Über die innere Moral
Über Kants Grab brachten Bürger später eine Tafel an, auf der das berühmte Zitat aus der „Kritik der praktischen Vernunft“ steht: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“
Das moralische Gesetz in mir, übersetzen wir das in die Sprache der Pädagogen: es ist das Berufsethos, das mich dazu verpflichtet, das zu tun, was ich für meine mir anvertrauten Schüler als das Beste erachte. Die meisten Vorschriften seitens unserer vorgesetzten Schulbürokraten sind überflüssig, weil meine innere Moral mir ohnehin vorschreibt, mich so zu verhalten.
Ich mache kein Hehl daraus, dass ich mich so manches Mal nicht darum geschert habe, was Juristen ins Schulgesetz geschrieben haben. Wie bitte, ich darf keine Strafarbeiten verteilen? Wenn ich sie für richtig gehalten habe, habe ich sie verteilt. Wie bitte, ich darf eine Klasse nicht als Kollektiv behandeln? Natürlich habe ich Kollektivstrafen verhängt, wenn ich mir einen erzieherischen Effekt davon versprochen habe.
Liebe Eltern, ich will ich mich heute bei Ihnen dafür bedanken, dass ich kein einziges Mal mit Klagen traktiert wurde, was ich denn Verbotenes ihren lieben Kleinen antäte. Nein, Sie, liebe Eltern, haben mir vertraut, dass ich bei allem nur das Wohl der Schüler im Auge hatte. Das Verhältnis der Eltern zu den Lehrern muss geprägt sein von diesem Vertrauen. Sie haben mir das Lehrerdasein durch Ihr Vertrauen leicht gemacht. Auch das ist inzwischen nicht mehr selbstverständlich.
Wie man hört, wenden sich manche Eltern bei irgendwelchen Beschwerden heute nicht mehr an den betreffenden Lehrer oder an den Schulleiter, sondern gleich an die Bezirksregierung oder noch besser gleich ans Gericht. Und sie finden Gehör.
Resultat ist dann die zunehmende „Verrechtlichung“ der Schule. Alles muss justiziabel sein, ob es im Einzelfall Sinn macht, ist egal. Resultat ist auch eine ängstliche und eingeschüchterte Lehrerschaft, die sich auf Fachkonferenzen hinhaltend darüber streitet, ob in einem Schuljahr 5 oder 6 Klassenarbeiten geschrieben werden sollen.
Dabei trage ich den entscheidenden Maßstab für mein pädagogisches Handeln doch in mir. Jene innere Moral, die Kant auch den „Kategorischen Imperativ“ nennt:
"Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."
Da steht alles drin, dazu brauche ich keinen Fachkonferenzbeschluss.
Folgen wir mehr dem moralischen Gesetz in uns.
Folgen wir dieser inneren Richtschnur. Es ist mühseliger, als sich nur an Vorschriften zu halten, aber es bringt aufrechten Gang. Und Mündigkeit.
Mündigkeit bedeutet auch, um es umgangssprachlich auszudrücken, mal etwas auf meine Kappe zu nehmen. Wie warnte schon dereinst der kleine Königsberger Kant:
"Wer sich zum Wurm macht, soll nicht klagen, wenn er getreten wird."

Über die individuelle Persönlichkeit
Jetzt kommt ein wichtiger Satz: Ich nähere mich dem Ende.
Wenn ich vorhin über die Vorschriftenwut gelästert habe, die aus Hannover über uns gekommen ist, so bin ich doch mit der grundsätzlichen Richtung unseres Schulgesetzes einverstanden: dass sich die Schüler zu individuellen Persönlichkeiten entfalten sollen. Wenn ich eins begriffen habe vom Leben, dann ist es die unglaubliche Vielfalt unterschiedlicher menschlicher Charaktere.
Die mangelnde Akzeptanz des Andersartigen hat Emanuel Geibel in einem kleinen Gedicht wunderbar angeprangert:
„Der Maulwurf hört in seinem Loch
Ein Lerchenlied erklingen
Und spricht:
Wie sinnlos ist es doch
Zu fliegen und zu singen…“

Viele Tierchen hat dieser Jahrgang 2007! Neben Maulwürfen, die vor allem nachts tätig sind und Lerchen, die die Show lieben: fleißige Bienen und schläfrige Murmeltiere, listige Raben und schlaue Füchse, starke Bären und Adler, die hoch hinaus wollen.
Eine Welt voller Wunder wartet auf Euch, in der alle diese Fähigkeiten gefragt sind.

Eine Weisheit des Philosophen der Fußballwelt, Sepp Herberger, lautete: „Der Ball ist rund!“ Diese schlichte Feststellung steckt voller Metaphorik. Sie steht für die Unberechenbarkeit dieses Spiels, für Überraschungen, für Hoffnung.
Auch das Leben ist rund. Es steckt voller unerwarteter Wendungen. Das Leben, liebe Abiturienten, das auf euch wartet, ist ein Drahtseilakt. Permanente Absturzgefahr inbegriffen.
Es wird ein Abenteuer, ein wunderbares Abenteuer. Findet heraus, welches Euer Leben ist. Vermeidet, dass Ihr irgendwann nachts wach liegt und Euch dann fragt, lebe ich mein Leben oder lebe ich nur so, wie andere es von mir erwarten?
Als kraftstrotzende Eroberer geht ihr jetzt hinaus. Bleibt es so lange wie möglich.
Der Prozess der kleinlauten Anpassungen setzt zwangläufig ein. Das Leben bringt  eine sich steigernde Sehnsucht nach Sicherem, der Mut zum Risiko lässt nach.  Verantwortung für eine Familie und das Bedürfnis nach gesellschaftlicher Anerkennung und beruflichem Aufstieg erfordern Kompromisse. Aber wahrt stets die innere Distanz zu Eurem Tun und huldigt wie Kant Eurer inneren Moral. Und wahrt, wie Theodor Storm es ausgedrückt hat, eure Selbstachtung.
Werdet Euch darüber klar, dass ihr vermutlich nie wieder im Leben so frei sein werdet wie im Moment. Verlasst frohen Mutes diese Anstalt der organisierten Freiheitsberaubung. Ein weites Feld ungeahnter Möglichkeiten liegt vor euch. Diese Bandbreite der individuellen Entfaltung ist ein Geschenk, in einem halben Jahr folge ich Euch nach. Pensionierung ist für mich wie Abitur plus Gelenkarthrose, Bluthochdruck und Haarausfall.
Schluss
Nun denn, tretet hinaus ins Leben und steht auch als Frau euren Mann. Arbeitet daran, dass die Erde, dieses Kleinod des Universums, in 40 Jahren noch steht und Ihr wie ich auf ein erfülltes Berufsleben zurückblicken könnt. Dabei zur Seite stehe Euch ein letztes weises Wort des großen, kleinen Mannes aus Preußen:
„Drei Dinge helfen, die Mühseligkeiten des Lebens zu tragen: Die Hoffnung, der Schlaf und das Lachen."

Liebe ehemalige Schüler ( hört sich das nicht gut an ???), nachdem ich  nun in 20 Minuten all das beibringen wollte, wozu ich in den vergangenen sieben Jahren eigentlich genug Zeit gehabt hätte, will ich die Ebene der Kantischen Lebensmaxime verlassen, in der leisen Hoffnung, dass der ein oder andere Gedanke als Erinnerung an den heutigen Tag nachhallen möge.
Ich gebe zu, dass die Übergabe der Zeugnisse eigentlich der ungeeignetste Zeitpunkt für Ermahnungen jedweder Art ist. Vor mir sitzen die zähen Überlebenden gnadenloser gymnasialer Auslese. Ziemlich entspannt und warten nur, dass ich aufhöre.
Das Selbstbewusstsein dieser Abiturienten hat Robert Gernhardt wunderbar formuliert:
„Lieber Gott, nimm es hin
daß ich was Besond’res bin.
Und gib ruhig einmal zu
daß ich klüger bin als du.
Preise künftig meinen Namen,
denn sonst setzt es etwas. Amen.“

Auf denn, Ihr Lieben, das Leben wartet.

Ich danke Ihnen allen für die Aufmerksamkeit.

©Dr.Jörg Hellmann